Norddeich Radio: Goodbye, forever over and out!
1899 sandte Marconi erstmalig einen Hilferuf über drahtlose Telegrafie in den Äther. Drei kurz, drei lang, drei kurz. Es war die erste humane Meldung, die das Leben von Menschen eines bei Goodwin Sands untergehenden Dampfers retten sollte und es war gleichzeitig die Geburt des Morsezeichens SOS. „Save our Souls” wurde dann auch 1906 international anerkannt.
In diesen Jahren baute die Firma Marconi auf vielen Schiffen ihre Funkeinrichtungen ein und besetzte auch diese mit ihren eigenen Funkern. Welche kuriosen Hindernisse der Funkverkehr zwischen den Schiffen und den Küstenfunkstationen vor dem ersten Weltkrieg zu überwinden hatte, zeigt eine wahre Begebenheit: Kaiser Wilhelm II kam gerade von einer Mittelmeer-Reise zurück und kehrte nun an Bord der „Hamburg” heim. In der Deutschen Bucht wollte er ein Telegramm nach Berlin aufgeben. Die „Hamburg” hatte aber ein „Telefunkengerät” an Bord. Der Funker rief die „Marconi-Station” in Borkum an, aber der Funker dort lehnte höflich aber bestimmt die Annahme des Telegramms ab. Der Satz, in den er sein „Nein” kleidete, füllte am nächsten Tag die Schlagzeilen der Weltpresse: „I am sorry!”.
Des Kaisers Telegramm musste über Holland gehen. Noch im gleichen Jahr begann Telefunken im Auftrag der Deutschen Reichspost mit dem Bau der Küstenfunkstation Norddeich Radio. Das war im Jahre 1905. 1907 begann Norddeich Radio mit dem Rufzeichen „DAN - Dora Anton Nordpol” mit dem Betrieb.
Ob in der Karibik, im Indischen Ozean, im chinesischen Meer oder bei Feuerland, überall herrschte riesige Freude, wenn der Seemann plötzlich die tausende Kilometer entfernte Familie in München, Köln oder Hamburg sprechen konnte. „Hier ist Norddeich Radio” - bei diesen Worten kam auch bei den härtesten Fahrensleuten Heimweh auf. Und wer erinnert sich nicht gern an die Weihnachtssendungen von „Rocki” alias Hermann Rockmann, der am Heiligabend die Herzen der Seeleute und ihrer Angehörigen zu Hause wärmte. In so mancher Familie konnte erst beschert werden, wenn die Kultstimme vom Norddeutschen Rundfunk Seeleute in aller Welt, auch über die „Deutsche Welle”, gegrüßt und zahlreiche Mütter ihren Söhnen auf den Weltmeeren ein frohes Weihnachtsfest gewünscht hatten.
Schiffs-Funkbude 1925
Salzige Meeresluft weht um die bis 130 Meter hohen Sende- und Empfangstürme von Norddeich. Inmitten grüner Wiesen mit grasenden Schafen, hinter kilometerlangen Deichen, soweit das Auge reicht. Fünfzehn eiserne Gittermasten ragen in die Höhe. Hier in Ulandshörn, acht Kilometer westlich der ostfriesischen Stadt Norden, ist die Heimat von Norddeich Radio. Von hier aus hielten die Funker Kontakt bis noch so verwinkelte Ecken der Erde. Reichweiten bis 2.000 Kilometer waren damals Spitzentechnik. Man begann 1907 den „Allgemeinen öffentlichen Seefunkverkehr” mit fünf Beamten. Einer bediente die Geräte, die anderen vier tippten die per Post eingegangen Nachrichten in den Morseapparat und nahmen die Funkzeichen der Schiffe auf. Im ersten und zweiten Weltkrieg diente Norddeich Radio der Marine und erst am 18. Mai 1948 durften wieder zivile Funksprüche aufgenommen und gesendet werden.
Die goldene Zeit fällt in den Beginn der achtziger Jahre. Rund 260 Mitarbeiter arbeiten im Schichtdienst rund um die Uhr. Bereits im Jahre 1995 wurde die Morsetelegrafie über Mittelwelle eingestellt. Auch der Sprechfunkverkehr musste angesichts der neuen Telefonie über Satelliten weiter nach unten gefahren werden. So wurden schon die Küstenfunkstellen „Elbe-Weser-Radio”, „Kiel-Radio” und „Rügen-Radio” geschlossen.
„Wir bedienen seit längerem nur noch den UKW-Bereich in Küstennähe. Grenzwelle und die Kurzwelle für weltweite Entfernungen gehören schon längst der Vergangenheit an”, sagt Wolfgang Hellriegel, einer der letzten Funker bei Norddeich Radio, etwas wehmütig. Satelliten- und Mobilfunktelefonie schaffen längst individuellere und sichere Verbindungen rund um die Welt. Zwar vermissen viele Seeleute auf den Weltmeeren, die Erkennung - den alten Klang des Weckers -, bevor Norddeich sich mit: „Norddeich Radio mit dem allgemeinen Sammelanruf” meldete.
So endet ein Kapitel, das zu Beginn des Jahrhunderts mit der Entwicklung der Morsetelegrafie begann. Aber jede glorreiche Geschichte findet einmal ihr Ende. Morsetelegrafie und terrestrischer Sprechfunk auf Basis von Hertzfrequenzen werden bald nur noch in Technikmuseen zu bewundern sein. Sie zollen Tribut an eine neue Technik, die den traditionellen Seefunk seit Mitte der 80er Jahre mehr und mehr verdrängt.
Norddeich Radio - die Antennen werden oder sind schon abgebaut, es beginnt ein neues Zeitalter. Es wird ein neues Service Center für die Vermarktung des digitalen Fernsehens und für den Zukunftsmarkt „Digitales Radio”. Über High-Tech-Geräte können Kunden dann klassische Informationen über Wetter, Staus in Stadt und Land, Flug- und Zugpläne via Funk erhalten. „Wir verlagern die Vermittlung von See nun auf das Land”, sagt der Leiter Jochen Erdmann.
Am 31. Dezember 1998 ließ Jochen Erdmann folgenden Funkspruch in die Welt funken: „This is Norddeich Radio. Goodbye, goodbye forever. Over and out”. Dieser Funkspruch, nach 92 Jahren, war das Ende eines Mythos. Das Ende von Norddeich Radio.
Bild ganz oben: Deutsche Telekom (QSL-Karte für den Empfang vom 25.11.1996 auf 2614 kHz); unten: Passagierschiff „Hamburg” von dem aus Kaiser Wilhelm II 1905 ein Telegramm nach Berlin absenden wollte.
Peter Schneider
Fotos: © Peter Schneider
Aus RADIOJournal 4/1999
•
Sendeschluss: Eine in den
letzten Jahren ständig verbesserte Satelliten-Technik bei
gleichzeitig geringer werdenden Kosten für diese neuen
Übermittlungswege gaben den Ausschlag: Die beiden großen
Küstenfunkstationen in Deutschland, das legendäre Norddeich Radio
und dessen kleinerer Ostsee-Pedant Rügen Radio, werden ihre
Sprechfunkdienste nur noch wenige Wochen aufrecht erhalten. Zum 31.
Dezember 1996 sollen diese Dienste aufgegeben werden.
Nachdem im vergangenen Jahr bereits die Versorgung via Mittelwelle
eingestellt worden war, beendete Norddeich Radio zum September 1996
die Telegrafie-Ausstrahlungen auf der Kurzwelle. Einen Monat später,
am 31. Oktober liefen dann die letzten KW-Sprechfunkverbindungen.
Nur noch in den Monaten November und Dezember 1996 sollen die
Aufgaben im Grenzwellenbereich (zwischen Mittel- und Kurzwelle)
erfüllt werden, ehe zum 1. Januar 1997 Rügen Radio seinen Dienst
komplett einstellen und Norddeich Radio zu einer reinen UKW-Station
umfunktioniert werden wird.
Norddeich Radio, der bekannteste der deutschen Küstenfunksender,
nahm seine Arbeit bereits im Jahr 1907 auf und wurde schnell zu
einer der lautesten Stimmen im damaligen Äther. Nach dem Zweiten
Weltkrieg wurden die Aufgaben der nun bundesdeutschen Funkstelle
immer umfangreicher. Dazu gehörten die kommerzielle Vermittlung von
Gesprächen ebenso wie die Versorgung der Schiffe mit Wetterprognosen
oder die Beobachtung der Seenotfrequenzen. Aus Platzmangel mussten
die Sendeanlagen von Norddeich Radio Mitte der 60er Jahre verlagert
werden. Die Station in Osterlog wird seit 1994 von den
Arbeitsplätzen in Utlandshörn aus ferngesteuert.
Rügen Radio, das auf eine mittlerweile 65-jährige Geschichte
zurückblicken kann, gehörte bis zur Wiedervereinigung zu den großen
europäischen Küstenfunkstellen. Noch 1989/90 wurden etwa 300.000
Telegramme und 65.000 Telefongespräche übermittelt. In den letzten
Jahren jedoch wurden die Dienste stark eingeschränkt: Auf der
Ostseeinsel war man nur noch für die Versorgung des näheren Bereichs
(Ostsee und angrenzende Gebiete) auf Mittel- und Grenzwelle sowie
UKW zuständig.
Ab dem 1. Januar 1997 wird Norddeich Radio als einzige deutsche
Küstenfunkstation übrigbleiben. Die Mitarbeiter der Telekom in
Norden übernehmen dann via UKW die Versorgung der unmittelbaren
deutschen Küstengebiete, was auch die Aufgaben der bisherigen
kleineren Funkstellen, wie zum Beispiel Elbe-Weser-Radio und Kiel
Radio, einschließt. Die Beobachtung der internationalen
Seenotfrequenzen 500 und 2182 kHz wird auf das dänische Blavand
Radio übertragen. Einzig der weltweite Telex-Verkehr via Kurzwelle,
der seit langem zu den kommerziellen Angeboten gehört, wird -
solange eine ausreichende Nachfrage besteht - weiter zu den Aufgaben
von Norddeich Radio gehören.
(RADIOJournal
11/1996)