Brief eines Freundes...
Auf dem Gebiet der Rundfunkgeschichte habe ich viele Jahre mit dem "Wellenjäger" Hermann Jäger zusammengearbeitet. Interessante Gespräche, spontane Telefonate und unvergessliche Korrespondenzen bleiben dauerhaft in Erinnerung. Zum 50. Geburtstag der BBC in London schrieb Hermann Jäger einen Brief an Gunda Cannon - zuständig für Promotion and Publicity. Ich erhielt damals eine Kopie dieses inhaltlich einmaligen Briefes und möchte sie dem RADIOJournal zum Abdruck anbieten:
"Der Schreiber dieser Zeilen ist Kurzwellen-Rundfunkhörer seit dem Sommer 1937 - über 50 Jahre also. Als Mann des Geburtsjahrgangs 1921 war er rund 16 Jahre alt, als ihm zum ersten Mal das Wunder der kurzen Wellen begegnete. Die Faszination des weltweiten Kurzwellenempfangs hat ihn bis heute nicht losgelassen.
Naturgemäß fragt man sich von Zeit zu Zeit, was war denn nun das unvergesslichste Erlebnis am Radio? Welche Sendung, welches Programm, das man gehört hat, wird man nie vergessen...? Die Antwort hierauf ist mir nie schwer gefallen und stellt sich in Sekunden des Nachdenkens ein: Es war ein Radio-Empfang am Sonntag, dem 3. September 1939, gemeinsam mit den Eltern im niederhessischen Melsungen an der Fulda. Das Gerät war auf den erst einjährigen Deutschen Dienst der BBC London eingestellt - den 'Londoner Rundfunk', wir wir damals alle sagten. Zwei Tage vorher hatte Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, und nun war die Welt gespannt, ob England Polen beistehen werde. Nie werde ich die Reaktion meiner Eltern am Empfänger vergessen, als der Sprecher der BBC in den Nachrichten mitteilte, dass 'England Polen beistehen wird'...!
Doch noch ein anderes werde ich nie vergessen, aus jener Stunde am Radio mit den Eltern, am 3. September 1939. Die sachliche, ruhige Stimme des Deutschen Dienstes der BBC London in dieser schicksalträchtigen Stunde. Welch ein Unterschied zu dem Propaganda-Getöse im Goebbels-Rundfunk! Hier nur sachliche, präzise Information - dort, im Goebbels-Rundfunk, der permanente Versuch, den Hörer zu betäuben, ihn in einen Rausch zu versetzen, ihn von den Fakten abzulenken. Nicht auf sie hinzuführen, denn dann wäre der Hörer ja zum Nachdenken gekommen.
Dieser Unterschied im 'Radio-Machen' war für die Eltern wie für den Sohn so ungeheuer beeindruckend, dass ab sofort zum Einholen von Informationen der Londoner Rundfunk der Sender blieb. Es gab von da an kaum eine Sendung des Deutschen Dienstes der BBC, die wir nicht gehört hätten. Tag für Tag, Abend für Abend wurde das Gerät der Eltern (ich sehe es noch heute vor mir) immer wieder auf London abgestimmt. Kein Freitag - an dem nicht die »Welt-Chronik« von Prof. J.R. von Salis im Sender Beromünster der Schweiz gehört wurde... Wenn ich heute überlege, was wir damals riskierten (das Abhören ausländischer Sender war bei Zuchthaus, im erschwerenden Falle bei Todesstrafe, verboten!) und wie leichtsinnig wir handelten, dann kann ich mir diesen 'Leichtsinn' nur so erklären: Wir wollten die Wahrheit hören, keinen Fanfaren-Rummel aus Berlin, keine Phrasen im 'Großdeutschen Rundfunk'. Im Bild: Gunda Cannon, ehemalige Pressesprecherin des Deutschen Dienstes der BBC London vor dem Promotionbus, mit dem der Sender "on Tour" ging.
Bevor ich im November 1940 Soldat werden musste, zeigte ich den Eltern am Radio genau, wo auf der Skala sie London finden würden. Von da an bleiben wir - wenn auch durch den Krieg getrennt - übers BBC-Hören miteinander verbunden. Als ich im Sommer 1942 einmal nach 22 Monaten auf Front-Urlaub aus Russland nach Hause kam, fand ich mein ab Mai 1939 geführtes 'Logbuch für Kurzwellenempfang' mit Eintragungen bis Ende Oktober 1940. Nicht auszudenken, wenn das bei den Eltern gefunden worden wäre! Ich trennte alle Eintragungen nach dem 1. September heraus. In dieser 'beschnittenen' Form habe ich das Logbuch heute noch.
Im Herbst 1972, die BBC wurde 50 Jahre alt, war ich das erste Mal Ihr Gast in London. Unvergesslich, das Funkhaus zu betreten, aus dem die Botschaften der Hoffnung im Krieg gekommen waren. Unvergesslich auch der Moment, da ich zum ersten Male den Schlag von Big Ben sozusagen 'in Natur', ohne Radio, hören konnte. Im Herbst 1978 war ich dann mit meiner Frau Ehrengast der BBC zum 40. Geburtstag des Deutschen Dienstes aus London. Unvergesslich auch diese Tage in London... Muss ich noch sagen, dass mein Radiogerät noch heute, fast 50 Jahre nach dem 3. September 1939, täglich viele Male auf London abgestimmt ist? Von den Nachrichten des World Service um 9.00 Uhr beim Frühstück des Wellenjägers, über die Nachmittag- und Abendsendungen im Deutschen Dienst bis zum späten Abend um 23.00 Uhr zu den Spätnachrichten des World Service. So blieb ich mein ganzes Leben bestens informiert darüber, was in der Welt (wirklich) los ist."
Eingesandt von Hans-Joachim
Berger
Fotos: © BBC
Aus RADIOJournal 10/1995
• Der Fachjournalist und Autor Hermann Jäger (geboren am 19. Dezember 1921; tätig unter anderem für die HörZu, FAZ, NZZ, WAZ etc.) gab in den Jahren 1962 und 1963 den "Wellenjäger", eine vierzehntägig erscheinende Fachzeitschrift zum Thema internationaler Hörfunk heraus. Am 17. Juli 1993 ist er nach schwerer Krankheit im Alter von 72 Jahren gestorben. Als Kurzwellenhörer seit 1937 und Journalist seit 1945, arbeitete er viele Jahrzehnte als freier Fachjournalist für internationalen Rundfunk.