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100 Jahre Radio (Teil 18) - “Hat der Radiohörer
ein Recht auf ungestörten Empfang”?
Anfang April 1926 fanden in Rotterdam in den
Niederlanden Gespräche mit dem Ziel statt, ein Institut zu gründen,
das die Störquellen ermitteln und Mittel zu ihrer Beseitigung
aufzeigen sollte. Die Gespräche fanden auf Initiative der
Philips-Werke statt. Anwesend waren Dr. Halbertsma und van Bluzters
von Philips, ein Ingenieur der städtischen Elektrizitätswerke, eines
von der Rotterdamsche Electrische Tramweg Maatschappij und der
Leiter des Postfunkdienstes sowie ein Vertreter des
Radiozubehörhandels.
Die Diskussion könnte als erster Schritt zu einer Zusammenarbeit der
Beteiligten angesehen werden, um den Radiohörern einen möglichst
ungestörten Empfang zu gewährleisten. Der Nieuwe Rotterdamsche
Courant berichtete darüber. In seinen einleitenden Bemerkungen sagte
Dr. Halbertsma, dass das Radio in eine gefährliche Ära eintreten
könnte, nämlich die der Sättigung, die auf dem Eindruck beruht, dass
jeder neue Hörer eine Quelle des Ärgernisses und der Irritation ist
und dass darüber hinaus Dritte die Menschen so sehr behindern, dass
die Nachteile immer schwerer wiegen. Im Ausland hatte dies bereits
dazu geführt, dass die Hörer ihre Geräte verschrotteten. Halbertsma
äußerte daher den Wunsch, dass rechtzeitig Kontakt zwischen den
beteiligten Parteien aufgenommen wird, um gemeinsam die technischen
Probleme zu lösen. Er fügte jedoch hinzu, dass es sich nicht nur um
ein rein technisches Problem handele, sondern dass auch das
öffentliche Interesse eine Rolle spiele.
Halbertsma: “So wie der Schatten der unvermeidliche Begleiter des
Lichts ist, ist jede Form des Radioempfangs mit Störungen verbunden,
und es hängt nur von der Anzahl, der Stärke und der Qualität der
Störungen ab, ob sie als ‘quantité negligeable’ (vernachlässigbares
Risiko) behandelt werden können oder ob sie dem Radiohörer den
Genuss und das Vergnügen Genuss völlig verderben können.
Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich die Skala der Störungen,
die weitgehend von den örtlichen Gegebenheiten und der
Gerätekonstruktion abhängt. Alle Radiohörer sind nur in Bezug auf
Störungen in der Luft gleich, die auf atmosphärischen elektrischen
Phänomenen beruhen, und nur durch die Abstimmung auf starke Sender
reduziert werden. Außerdem sind die Einwohner von Großstädten in
Bezug auf diese Funkstörungen viel schlechter dran als die Bewohner
von Kleinstädten und ländlichen Gebieten.”
1926 ging man davon aus, dass vor allem der zunehmende Einsatz von
Strom für Motoren in der Industrie und im Haushalt, für Aufzüge,
Ventilatoren, Staubsauger, Kinowechselrichter usw. eine Störquelle
darstellte. Man war zu dem Schluss gekommen, dass Gleichstrom in
dieser Hinsicht schädlicher ist als Wechselstrom, und außerdem
wurden viele Ausfälle auf die verschiedenen Straßenbahnlinien
zurückgeführt, die inzwischen in Rotterdam gebaut worden waren. Auf
der Sitzung wurde berichtet, dass im Vergleich zu
Straßenbahnschienen Telefon- und Telefonanlagen zu den eher
harmlosen Störungen zählen. Röntgengeräte, Geräte für
Schönheitsbehandlungen und Gesichtsmassagen sowie elektrische
Heizkissen mit automatischer Temperaturregelung gehörten ebenfalls
zu den häufig vermuteten Störungsursachen.
Dabei kam Halbertsma zu dem Schluss, dass wenn Radiohörer umso näher
beieinander sind, je mehr das Radio seine Wirkung entfaltet. Desto
größer wurde auch die Wahrscheinlichkeit einer gegenseitigen
Beeinflussung. “Für letzteres müssen die Hörer selbst die
Verantwortung übernehmen. Sie können jedoch nichts gegen die von
anderen Sendern verursachten Störungen unternehmen.”
Es wurde auch auf die Entstehung von Schwierigkeiten zwischen dem
staatlichen Monopolradio und den Radiohörern hingewiesen, deren
Rechtsstellung noch nicht geregelt war. Jede technologische
Entwicklung dieser Zeit brachte neue Probleme mit sich. Der
Telegrafie- und Telefondienst zum Beispiel hatte etwa 30 Jahre zuvor
den Aufstieg der Hochleistungstechnologie mit Misstrauen beobachtet.
Sie beschäftigte sich dann, im Interesse von Hunderttausenden von
Radiohörern, die den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten
angehörten, mit der Frage: “Hat der Radiohörer ein Recht auf
ungestörten Empfang”? Das damals geltende Belästigungsgesetz sorgte
dafür, dass Industrieanlagen nicht zu einer Quelle der Belästigung
für die Nachbarn werden konnten. Ein Redner formulierte es weiter
mit: “Vor nächtlichem Klavierspiel genießen wir einen gewissen
Schutz. Die Freude am Radioempfang ist jedoch niemandem sicher. Auch
hier wird sich das Recht langfristig an den technischen Fortschritt
anpassen.” Anschließend wurden die einzelnen Möglichkeiten im
technischen Bereich, die die verschiedenen Beteiligten ausprobieren
könnten, um in Zukunft einen besseren und störungsfreieren Empfang
zu gewährleisten, eingehend diskutiert.
Doch in jenem Aprilmonat 1926 passierte noch mehr, denn es wurde
bekannt, dass in Leipzig ein Hungerkünstler, der 32 Tage lang in
seinem Glaskasten eingesperrt war, von der Polizei entlarvt wurde.
Die Ärzte, die den Mann untersucht hatten, waren zu dem Schluss
gekommen, dass dieser Künstler tatsächlich ernährt war. Sie
alarmierten die Polizei, die die Angelegenheit sehr sorgfältig
untersuchte und dann herausfand, dass Nelson, der sich selbst den
hungernden Künstler nannte, nachts durch ein Glasrohr mit
Hühnersuppe gefüttert wurde. Da die Vitrine versiegelt war, wurde
diese Röhre durch das Loch eingelassen, durch das das Rohr vom
Radiolautsprecher, der sich im Inneren der Vitrine befand, lief. Auf
dieser Strecke hatte Nelson Lebensmittel für zwölf Tage erhalten.
“Hungerkünstler” war damals ein Hype und betraf Menschen, die eine
Zeit lang nichts gegessen hatten und deshalb hungerten um sich nun
Künstler zu nennen. Übrigens entdeckte man im Glasgefängnis auch ein
Glas mit Gerstenbier und Pralinen, die unter den zahlreichen
Mineralwasserflaschen versteckt waren. Nelsons Manager wurde
ebenfalls in Gewahrsam genommen, aber nach kurzer Zeit wieder
freigelassen. Tatsächlich ergaben die Ermittlungen, dass Nelsons
Nachtwächter von diesem bestochen worden waren und ihm bei der
Beschaffung der Lebensmittel halfen. Bereits 70.000 Menschen hatten
den Hungerkünstler gegen Zahlung von 50 Pfennig besucht. Wofür das
Radio 1926 keine Werbung machen konnte.
Hans Knot