Branchen-Magazin
für Radio und neue Medien

Webausgabe 1-2/2023


Fotos: © Archiv Hans Knot

100 Jahre Radio (Teil 18) - “Hat der Radiohörer ein Recht auf ungestörten Empfang”?

Anfang April 1926 fanden in Rotterdam in den Niederlanden Gespräche mit dem Ziel statt, ein Institut zu gründen, das die Störquellen ermitteln und Mittel zu ihrer Beseitigung aufzeigen sollte. Die Gespräche fanden auf Initiative der Philips-Werke statt. Anwesend waren Dr. Halbertsma und van Bluzters von Philips, ein Ingenieur der städtischen Elektrizitätswerke, eines von der Rotterdamsche Electrische Tramweg Maatschappij und der Leiter des Postfunkdienstes sowie ein Vertreter des Radiozubehörhandels.

Die Diskussion könnte als erster Schritt zu einer Zusammenarbeit der Beteiligten angesehen werden, um den Radiohörern einen möglichst ungestörten Empfang zu gewährleisten. Der Nieuwe Rotterdamsche Courant berichtete darüber. In seinen einleitenden Bemerkungen sagte Dr. Halbertsma, dass das Radio in eine gefährliche Ära eintreten könnte, nämlich die der Sättigung, die auf dem Eindruck beruht, dass jeder neue Hörer eine Quelle des Ärgernisses und der Irritation ist und dass darüber hinaus Dritte die Menschen so sehr behindern, dass die Nachteile immer schwerer wiegen. Im Ausland hatte dies bereits dazu geführt, dass die Hörer ihre Geräte verschrotteten. Halbertsma äußerte daher den Wunsch, dass rechtzeitig Kontakt zwischen den beteiligten Parteien aufgenommen wird, um gemeinsam die technischen Probleme zu lösen. Er fügte jedoch hinzu, dass es sich nicht nur um ein rein technisches Problem handele, sondern dass auch das öffentliche Interesse eine Rolle spiele.

Halbertsma: “So wie der Schatten der unvermeidliche Begleiter des Lichts ist, ist jede Form des Radioempfangs mit Störungen verbunden, und es hängt nur von der Anzahl, der Stärke und der Qualität der Störungen ab, ob sie als ‘quantité negligeable’ (vernachlässigbares Risiko) behandelt werden können oder ob sie dem Radiohörer den Genuss und das Vergnügen Genuss völlig verderben können.



Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich die Skala der Störungen, die weitgehend von den örtlichen Gegebenheiten und der Gerätekonstruktion abhängt. Alle Radiohörer sind nur in Bezug auf Störungen in der Luft gleich, die auf atmosphärischen elektrischen Phänomenen beruhen, und nur durch die Abstimmung auf starke Sender reduziert werden. Außerdem sind die Einwohner von Großstädten in Bezug auf diese Funkstörungen viel schlechter dran als die Bewohner von Kleinstädten und ländlichen Gebieten.”

1926 ging man davon aus, dass vor allem der zunehmende Einsatz von Strom für Motoren in der Industrie und im Haushalt, für Aufzüge, Ventilatoren, Staubsauger, Kinowechselrichter usw. eine Störquelle darstellte. Man war zu dem Schluss gekommen, dass Gleichstrom in dieser Hinsicht schädlicher ist als Wechselstrom, und außerdem wurden viele Ausfälle auf die verschiedenen Straßenbahnlinien zurückgeführt, die inzwischen in Rotterdam gebaut worden waren. Auf der Sitzung wurde berichtet, dass im Vergleich zu Straßenbahnschienen Telefon- und Telefonanlagen zu den eher harmlosen Störungen zählen. Röntgengeräte, Geräte für Schönheitsbehandlungen und Gesichtsmassagen sowie elektrische Heizkissen mit automatischer Temperaturregelung gehörten ebenfalls zu den häufig vermuteten Störungsursachen.



Dabei kam Halbertsma zu dem Schluss, dass wenn Radiohörer umso näher beieinander sind, je mehr das Radio seine Wirkung entfaltet. Desto größer wurde auch die Wahrscheinlichkeit einer gegenseitigen Beeinflussung. “Für letzteres müssen die Hörer selbst die Verantwortung übernehmen. Sie können jedoch nichts gegen die von anderen Sendern verursachten Störungen unternehmen.”
Es wurde auch auf die Entstehung von Schwierigkeiten zwischen dem staatlichen Monopolradio und den Radiohörern hingewiesen, deren Rechtsstellung noch nicht geregelt war. Jede technologische Entwicklung dieser Zeit brachte neue Probleme mit sich. Der Telegrafie- und Telefondienst zum Beispiel hatte etwa 30 Jahre zuvor den Aufstieg der Hochleistungstechnologie mit Misstrauen beobachtet. Sie beschäftigte sich dann, im Interesse von Hunderttausenden von Radiohörern, die den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten angehörten, mit der Frage: “Hat der Radiohörer ein Recht auf ungestörten Empfang”? Das damals geltende Belästigungsgesetz sorgte dafür, dass Industrieanlagen nicht zu einer Quelle der Belästigung für die Nachbarn werden konnten. Ein Redner formulierte es weiter mit: “Vor nächtlichem Klavierspiel genießen wir einen gewissen Schutz. Die Freude am Radioempfang ist jedoch niemandem sicher. Auch hier wird sich das Recht langfristig an den technischen Fortschritt anpassen.” Anschließend wurden die einzelnen Möglichkeiten im technischen Bereich, die die verschiedenen Beteiligten ausprobieren könnten, um in Zukunft einen besseren und störungsfreieren Empfang zu gewährleisten, eingehend diskutiert.



Doch in jenem Aprilmonat 1926 passierte noch mehr, denn es wurde bekannt, dass in Leipzig ein Hungerkünstler, der 32 Tage lang in seinem Glaskasten eingesperrt war, von der Polizei entlarvt wurde. Die Ärzte, die den Mann untersucht hatten, waren zu dem Schluss gekommen, dass dieser Künstler tatsächlich ernährt war. Sie alarmierten die Polizei, die die Angelegenheit sehr sorgfältig untersuchte und dann herausfand, dass Nelson, der sich selbst den hungernden Künstler nannte, nachts durch ein Glasrohr mit Hühnersuppe gefüttert wurde. Da die Vitrine versiegelt war, wurde diese Röhre durch das Loch eingelassen, durch das das Rohr vom Radiolautsprecher, der sich im Inneren der Vitrine befand, lief. Auf dieser Strecke hatte Nelson Lebensmittel für zwölf Tage erhalten.

“Hungerkünstler” war damals ein Hype und betraf Menschen, die eine Zeit lang nichts gegessen hatten und deshalb hungerten um sich nun Künstler zu nennen. Übrigens entdeckte man im Glasgefängnis auch ein Glas mit Gerstenbier und Pralinen, die unter den zahlreichen Mineralwasserflaschen versteckt waren. Nelsons Manager wurde ebenfalls in Gewahrsam genommen, aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Tatsächlich ergaben die Ermittlungen, dass Nelsons Nachtwächter von diesem bestochen worden waren und ihm bei der Beschaffung der Lebensmittel halfen. Bereits 70.000 Menschen hatten den Hungerkünstler gegen Zahlung von 50 Pfennig besucht. Wofür das Radio 1926 keine Werbung machen konnte.

Hans Knot