Sendemast in Berlin-Britz Foto: © Dirk Halbedl
»Ich glaub', ich hätt' Entzugserscheinungen!«
Also wenn Sie mich fragen: Mein Fernsehgerät würde ich kaum vermissen. Fernsehfreie Tage oder Abende: Überhaupt kein Problem. Ganz anders sieht's mit meinen Radios aus. Wenn ich sie nicht hätte, ehrlich: ich glaub', ich hätte ernsthafte Entzugserscheinungen. In jedem Zimmer, und selbstverständlich auch im Büro, steht mindestens eins. Dazu kommen ein paar gute Radiorekorder, mit denen ich alles aufzeichne, was mich interessiert, wenn ich's nicht direkt hören kann.
Morgens beim Rasieren erste Nachrichten. Mein kleiner China-Transistor (FM/LW) holt mir den Deutschlandfunk auf 153 kHz recht brauchbar rein, das Ding ist laut genug, sich gegen das Geplätscher meiner Handbrause verständlich durchzusetzen.
Etwas später sitze ich im Auto. 55 Kilometer zur Arbeitsstelle. Fahrzeit durchschnittlich eine Dreiviertelstunde. Früher habe ich mich oft gelangweilt. Heute unterhalten mich Hörspiele, die ich am Vortag aufgezeichnet habe. Zum Beispiel Krimis. Manche waren so aufregend, hätte ich das Lenkrad nicht festhalten müssen, ich wäre alle drei Minuten vom Sitz aufgesprungen! Oder ich höre Funkerzählungen. Informative Features. Lebensbilder. Magazine. Dabei lerne ich so viel Neues, dass ich gar keine Zeit habe, mich über irgendeinen unverbesserlichen Drängler aufzuregen, der noch immer glaubt, auf deutschen Autobahnen dürfe nur mit 180 km/s überholt werden.
Später im Büro, wenn dringend gebrauchte Texte nur zäh gedeihen: Ein bisschen FFH gehört, ein paar vertraute Hits, und schon kommt wieder Schwung in den Schreibfluss. Ab und zu Nachrichten: FFH und hr1 im Wechsel, so bleib ich auf dem Laufenden. Nach der Arbeit - Die Fahrt nach Hause. Ein bisschen Musik zur Entspannung. Gerne auch mal AFN. Wo bittschön kann man denn sonst seine Englischkenntnisse so ganz nebenbei auffrischen?
Und wenn der Abend dann gelaufen ist, wenn ich gegen 23.00 Uhr mit meinem Sony ICF 2001 D noch in die Kurzwelle reinhöre, Stimme des Freien China, Taiwan, auf 15600 kHz, oder HCJB in Ecuador, Südamerika, dann wachsen meine Ohren um den halben Erdball, dann höre ich die Welt, ihren Gesang, ihr Reden. Und meine Vorstellungskraft beginnt zu malen, Gesichter, die zu den Stimmen gehören, und Landschaften, die zur Musik passen, mein Blick wächst hinaus über meinen Alltag. Mit einer Intensität, die mir kein TV-Gerät dieser Welt gewähren kann.
Also: Wenn Sie zu oft vor der Mattscheibe kleben, und darunter leiden: Geben Sie doch einfach Ihrem Radio wieder mal eine Chance. Es könnte sein, da gehen Ihnen Welten auf...
Rolf-Dieter Wiedemann
Aus
RADIOJournal 8/1997